Vergessen wir einen Moment mal Pandemie und Home-Office, mehr noch, vergessen wir die vielbeschworene Krise der Medienbranche, die durch sinkende Auflagen und Einbrüchen im Anzeigengeschäft bereits in den 1990er Jahren beschworen wurde.
Wenn Du ein neues Format entwickeln dürftest, so für eine ambitionierte Regionalzeitung, für eine Zielgruppe zwischen 16 und 35, wie würde das aussehen? Was dabei nicht vergessen werden kann: Du bist Journalist*in – im hier und jetzt. Welche Rolle würde das in dem Format spielen?
Über die letzten Monate hat mir die Mittelbayerische Zeitung in Regensburg diese Chance gegeben. Herausgekommen ist: Überpfalz – Ostbayern, anders als erwartet.
Eine Krankenschwester, ein Friseur, eine Schülerin und ein Straußenfarmer… ich hätte nicht gedacht, dass sich die Übersicht über die fertigen Folgen mal liest wie der Beginn von einem lustigen Witz. Anders als erwartet eben, das war der Ansatz. Aber was ist die Pointe?
Das Ziel von Überpfalz ist es, einen Kanal zu schaffen, der die Zielgruppe, Menschen unter 35 aus Ostbayern, repräsentiert, indem er sie selbst zu Wort kommen lässt.
Vielleicht kennt ihr das aus dem Sommer. Man hat beim Bummel extra ein, zwei Schlenker mehr gemacht, um bei der „besten Eisdiele der Stadt“ anzustehen. Dieses Prädikat hatte eine Freundin nur dieser einen Eisdiele verliehen – ohne dabei eine Eissorte hervorzuheben, weil ja alles „super lecker“ sei. Und dann steht man da, erschlagen von der riesigen Auswahl, von Zitrone Macadamia Mandel Crunch bis Aronia Kirsche White Chocolate Fudge, und kann sich nicht entscheiden.
Gut, das Beispiel ist vielleicht überspitzt, aber das Gefühl kennen viele: Over-Choice. Nach Haupt-, Realschule oder Gymnasium ist man endlich frei. Es sind viele Interessen da, einige Türen stehen offen – wie in aller Welt soll man sich da für eine Sache entscheiden? Allein die Wünsche der Eltern zu befriedigen ist, laut einer SINUS-Studie der Leibnitz Universität Hannover, für die meisten jedenfalls Vergangenheit.
Überpfalz zeigt Menschen unter 35 aus Ostbayern, die sich für eine Kugel entschieden haben. Menschen, die Vorbilder sind, weil sie genauso alt sind „wie wir“ und durch ihr Wirken andere inspirieren. Bemessen wird das nicht an monetärem Erfolg oder Anzahl an Vorstandsposten, sondern allein an der Begeisterungsfähigkeit für eine Sache. Menschen, die für etwas brennen – und in einem YouTube-Video begründen können, warum.
Warum die Plattform YouTube?
Kein Facebook, kein Instagram, Überpfalz ist ein YouTube-Kanal, weil die Themen mehr Platz verdient haben als 60 Sekunden. Das Video über Benny erreichte bei einer Länge von 10:55 Minuten eine durchschnittliche Wiedergabedauer von 50 Prozent. 40 Prozent der Zuschauer*innen schauten das Video bis zum Schluss. Ein Indiz, dass längere journalistische Formate auf YouTube funktionieren.
Auch das längste Video der ersten Staffel „Daniel hält Strauße: Idylle mit Schlachtraum“ (Länge 17:39) schauten 46 Prozent der Zuschauer*innen bis Minute 14:17.

Die einzelnen Folgen von Überpfalz haben keine vorgegebene Länge, sie sollen so lang sein, wie Zuschauen kurzweilig ist. Sie sind keine Schnellschüsse, die Dreharbeit erfordert Zeit, um den Themen und porträtierten Persönlichkeiten gerecht zu werden.
Ostbayern braucht ein Format, das die Lebenswirklichkeiten der Zielgruppe repräsentiert. Es unterscheidet sich von Funk-Formaten von ARD&ZDF, weil es nichts in Berlin, München oder Hamburg dreht. Überpfalz ist in Gleiritsch, Eiglsberg und Trasching vor Ort – und zeigt, warum es sich lohnt, dort hinzufahren.
Mittelbayerische Video hat die erste Staffel Überpfalz produziert. Die einzelnen Folgen wurden von Artikeln für die Zeitung und mittelbayerische.de begleitet. Die actionreiche Kameraarbeit leistete Christian Senger. Konzept, Recherche und Schnitt kamen von Leon Willner. Überpfalz ist Produkt der Initiative Regionalfellowship zwischen zahlreichen Verlagen und der Deutschen Journalistenschule.