Chaos ordnen, Fakten klären – das ist die Rolle, die Journalist*innen in einer Ausnahmesituation zufällt. Aber wie geht das in einem Land, in dem ihnen kaum jemand glaubt?
Als im Oktober 2019 überall in Chile Menschen auf die Straße gehen, um gegen die Regierung zu demonstrieren, haben sich die Agenten Kubas und Venezuelas längst abgesprochen. Gemeinsam orchestrieren sie Brandanschläge auf die Metro in Chiles Hauptstadt Santiago. Im Norden des Landes nimmt die örtliche Polizei, „Carabineros de Chile“, Molotowcocktails in die Hand und wirft sie auf ihre eigenen Reviere. Währenddessen gaukelt der chilenische Präsident Sebastián Piñera dem Volk seine Besorgnis nur vor: Noch an dem Samstag, an dem er eine Ausgangssperre verhängt, feiert er ausgelassen die Hochzeit der Tochter eines Ex-Ministers.
Außer, dass es seit Oktober 2019 massive Proteste gegen die chilenische Regierung gibt, sind alle Fakten aus dem ersten Absatz nachweislich falsch. Trotzdem erreichten diese Fake News enorme Reichweiten. Via Social Media und Messenger-App durchquerten Falschmeldungen wie diese das über 4300 Kilometer lange Land binnen Sekunden – und verstärken so die Unsicherheit aller Chilen*innen.
Journalist*innen fällt in einer Ausnahmesituation eine besondere Rolle zu. Sie sind diejenigen, die aus einem Haufen aus 1000 Puzzleteilen zunächst die Randstücke heraussuchen. Ein mühsamer Prozess, der vor allem eins erfordert: Zeit, sich jedes Argument viraler Aussagen anzusehen und zu überprüfen, ob sie Tatsachen entsprechen. Zeit, zu den Wurzeln der Fake News zurückzugehen und die Urheber*innen zu ermitteln und zu verstehen, welche Interessen sie verfolgen.

Fact-Checking heißt diese Art von Journalismus.
In der Masterarbeit „Wahr-Sager. Die Fact-Checker der Protestbewegung in Chile“ an der Ludwig-Maximilians-Universität wollte ich wissen, wer die Menschen sind, die Fact-Checking betreiben. Wie arbeiten sie und was hat das alles mit dem Mediensystem zu tun, in dem sie wirken? Dazu habe ich mich im Frühjahr 2020 intensiv mit der Fact-Checking-Bewegung beschäftigt.
In Chile stieg die Zahl der Fact-Checking-Projekte mit der Protestbewegung von zwei auf zwischenzeitlich 17 an. Diese neue Bewegung steht beispielhaft für einen globalen Trend im Journalismus: Seit den 2010er-Jahren sind überall auf der Welt Fact-Checking-Projekte entstanden: Die Washington Post schrieb bereits 2014 von einem „globalen Boom im Fact-Checking“.
Sowohl traditionelle Medienhäuser, als auch Universitäten und unabhängige Journalist*innen stellten sich der unkontrollierbar wachsenden Desinformation im Internet entgegen und veröffentlichten Überprüfungen viraler Beiträge auf ihren Plattformen. Dabei kämpfen sie nicht nur gegen Falschmeldungen, sondern auch gegen die Medienskepsis insgesamt.
Mehr als 80 Prozent der Befragten glauben, dass der chilenische Journalismus nicht über wichtige Themen berichte (Grassau et al. 2019, S. 8)
Der Journalismus in Chile, das ergab eine Studie der Universidad Católica, sei einseitig und nicht fair. 72 Prozent der Befragten stimmten der Aussage „der Journalismus berichtet besser über die Proteste als Social Media“ nicht zu. Außerdem glaubten 90 Prozent nicht daran, dass der Journalismus zu einer Befriedung der chilenischen Gesellschaft beitragen kann.

Der Aussage, „ich glaube, dass journalistische Nachrichten wahr sind“, widersprachen 82 Prozent (S. 10).
Wie kann unter solchen Bedingungen eine Reform des Journalismus aussehen?
Mithilfe qualitativer Expert*inneninterviews habe ich die Fact-Checker*innen Chiles befragt. In Chile, das war in den Gesprächen ersichtlich, ist eine Rechnung noch unbeglichen: Die mangelhafte Aufarbeitung der Rolle des traditionellen Journalismus während der Diktatur von Augusto Pinochet.
Warum werden Journalist*innen Fact-Checker*innen und wie arbeiten sie in Chile?
Die Zeiten, in denen der Journalismus alleine entschied, was zur Nachricht wird, mögen mit dem Aufkommen des Internets ein abruptes Ende gefunden haben. Doch der Journalismus hat darauf reagiert. Stattdessen bringt er sich als Bastion der Fact-Checker in Stellung. Aus Gatekeepern wurden „truth keeper“, „Wahr-Sager“, professionelle Journalisten als „Hüter der Wahrheit“.
Die Masterarbeit zeigt, dass Fact-Checking-Pioniere aus den USA Einfluss auf Faktenchecks in Chile haben. Die US-Pioniere haben die Methodologie erfunden – und diese sodann mithilfe eines globalen Fact-Checking-Netzwerks verbreitet – an der sich chilenische Fact-Checker*innen orientieren. Nur so erhalten unabhängige Fact-Checking-Projekte Zugang zu wichtigen Analysetools der sozialen Netzwerke und können über Verträge mit Facebook und Google ihr wirtschaftliches Überleben sichern.
Die Masterarbeit als PDF:
Wahr-Sager. Die Fact-Checker der Protestbewegung in Chile_Masterarbeit_Leon Willner_tiefblick
Titelfoto: Sophia Boddenberg. Fotos im Text: Enrique Núñez Mussa
Empfohlene Zitierweise
Leon Willner: Wahr-Sager. Die Fact-Checker der Protestbewegung in Chile. tiefblick 2020. https://tiefblick.blog/2020/08/18/wahr-sager-die-f…ewegung-in-chile/ (Datum des Zugriffs).
Ein Gedanke zu “Wahr-Sager. Die Fact-Checker der Protestbewegung in Chile”