Aushängeschild des "neuen Ruanda": Das Kigali Convention Center in den Nationalfarben.

Die Zeit allein heilt keine Wunden

Zum Gedenken an die Opfer des Völkermords in Ruanda gerät das Erbe der Hinterbliebenen fast in Vergessenheit. Zwei Betroffene über das schwierige Verhältnis von Tätern und Opfern (Foto: Das „Kigali Convention Center“ steht mit seinem bunten Lichterspiel für ein neues Ruanda).

Von Leon Willner, Kigali/München

25 Jahre später ist viel Prominenz in Ruanda: EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker entzündet eine Flamme am „Kigali Völkermord Denkmal“, Ex-Kolonialherr Deutschland schickt Altbundespräsident Horst Köhler, Ex-Kolonialherr Belgien entsendet Premierminister Charles Michel. Ruandas Präsident, Paul Kagame, der einst mit der Rebellengruppe RPF die Hutu-Extremisten stürzte, sagt: „Ruanda ist wieder eine Familie.“

Die Rede des Präsidenten hat Alphonse Hakizimana wahrscheinlich nicht gesehen, er hat doch keinen Fernseher. „Verdammt, ich habe heute nicht einmal ein Mittagessen gehabt“, sagt er bei einem Treffen in einem Restaurant im Osten der Hauptstadt Kigali. „Glaubst Du, das ist fair?“

Alphonse Hakizimana weiß nicht, wann er geboren wurde. Vielleicht am 6. April 1994, als der Abschuss des Flugzeugs des damaligen Präsidenten Ruandas Juvénal Habyarimana den Auslöser der Massenmorde bildete. Vielleicht, als die Vereinten Nationen ihre Truppen tatenlos abzogen, als binnen 100 Tagen radikale Hutu mindestens 800.000 Menschen, die meisten von ihnen Tutsi, ermordeten. Das richtige Datum wollte ihm keiner sagen.

Seinen Geburtstag feiert er am 23. Oktober, obwohl in seinem Pass der 1. Januar vermerkt ist. „Das habe ich so angegeben, um früher einen Ausweis zu bekommen“, sagt er. Er ist jetzt wohl 25 Jahre alt. In Ruandas Hauptstadt Kigali knattert es laut in der Luft. Dann rauscht ein Schwarm Moto-Taxis vorbei. Mit den knallgrünen Helmen der Fahrer sehen sie aus wie motorisierte Schmeißfliegen. In einem Restaurant im Osten der Stadt sitzt Hakizimana still auf seinem Stuhl, er bestellt nichts.

Hakizimana ist ein Kind des Genozids. Seine Mutter, eine Tutsi, wurde mehrfach vergewaltigt, vermutlich von verschiedenen Hutu-Männern. Seine Eltern hat er nie kennengelernt. Er weiß nicht, ob sein Vater einer der Vergewaltiger war, oder ob er aus einer Beziehung der Mutter unmittelbar vor dem Völkermord stammt. Aufgewachsen ist er bei seiner Großmutter.

Seit er zwölf Jahre alt ist weiß er: Er ist HIV-positiv. Seine Mutter starb an AIDS, als das Hakizimana zwei war. Das hat ihm seine Oma erst auf dem Sterbebett gesagt. Die Vergewaltiger hätten die Mutter infiziert.

„Der Arzt hat gesagt, dass ich so den Panikattacken entkomme“

Neben Hakizimana sitzt Honorine Uwababyeyi. Den Lärm der Straße ignoriert sie, für Hakizimana bestellt sie etwas mit. Uwababyeyi ist 1985 geboren, mit acht Jahren verlor sie im Völkermord den Vater. Ihr Trauma hörte mit dem Ende des Mordens nicht auf. Je älter Honorine wurde, desto stärker wurden die Panikattacken. „Mein ganzer Körper war dann wie gelähmt. Ich war paralysiert. Ich verfing mich in bösen Gedanken und fraß Kummer an“, sagt sie.

Uwababyeyi sehnte sich nach Wahrheit. Sie sagt: „Ruanda machte mich müde“, denn die Bilder von damals seien immer wiedergekommen. „Dann habe ich einen Täter konfrontiert. Persönlich hat er mir nichts getan, aber ich kannte sein Gesicht. Vor Diskussionen mit Opfern ist er immer davongelaufen.“ Uwababyeyi wollte, dass er sich endlich mit ihnen auseinandersetzt.

Der Täter habe das Gefängnis nach Absitzen seiner Strafe wieder verlassen gehabt. „Er erzählte mir, dass es ihm sehr unangenehm sei. Lange dachte er, ,lieber tot sein, als die wahre Identität verraten‘.“ Nach einer Weile habe er Uwababyeyi dann gesagt, dass er froh sei, Überlebende zu treffen: „Wir merkten, dass das offene Gespräch in der Gruppe heilend sein kann. Sogar die Doktoren haben mir gesagt, dass ich so den Panikattacken entkomme.“

2013 war das. Ein Jahr nach der Begegnung mit dem Täter gründete Honorine Uwababyeyi eine Nichtregierungsorganisation, die „Hope and Peace Foundation“. Mit ihrer Organisation fordert Uwababyeyi mehr sichere Orte, an denen Opfer und Täter sich begegnen und austauschen können. Sie will ihnen die Möglichkeit geben, das Schweigen endlich zu durchbrechen.

Die „Hope and Peace Foundation“ zählt inzwischen 319 Mitglieder. Noch im Gründungsjahr traf Uwababyeyi dort auf Alphonse Hakizimana.

Mit 13 begann er Pillen zu schlucken

Nach dem Tod seiner Oma landete Alphonse Hakizimana auf der Straße. Er hatte niemanden mehr. Hier und da half er in Hotels aus: Koffertragen. Für ein Dach über dem Kopf tingelte er von Nachbarn zu Nachbarn.

Das HI-Virus, nicht das Spielen mit den Nachbarskindern, war jetzt sein Leben. Er verfluchte alles: seine Armut, seine Krankheit, seine Eltern. Er wünschte sich, er wäre vom Himmel gefallen, nur nicht in dieses verdammte, winzige Binnenland in Ost-Afrika. Seine Heimat Ruanda, kaum so groß wie Oberbayern und Niederbayern zusammen, er wollte sie von der Landkarte streichen.

Mit 13 Jahren begann Hakizimana ARVs zu schlucken. Medizin, damit das Virus nicht ausbricht. ARV, das steht für ‚antiretrovirale Medikamente‘. „Es sind Wirkstoffe, die wir auch hier in Europa einsetzen“, erklärt Dr. Thomas Buhk vom Infektionsmedizinischen Centrum Hamburg. „Wir in Deutschland haben allerdings einen Zugang zu moderneren Medikamenten, und der Vorteil ist, dass sie besser verträglich sind.“ Dadurch seien die unerwünschten Wirkungen sowie die Pillenlast geringer.

Hakizimana schluckt mehrere Pillen pro Tag. Eine Begleituntersuchung zur Therapie, wie sie in Deutschland üblich ist, kennt Alphonse nicht. „Die Regierung redet immer davon, dass wir uns ein neues Leben aufbauen sollen“, sagt er. „Start ups und so. Aber das ist unmöglich, ich muss mir erst die Pillen leisten können. Wer arm ist, bleibt arm.“

„Was ist mit den Überlebenden?“

Ein Freund hatte Alphonse von der „Hope and Peace Foundation“ erzählt. Dort lernte er Honorine kennen, sie kümmerte sich um ihn, brachte ihn weg von der Straße. „Honorine hat uns beigebracht, das Leid direkt zu konfrontieren“, sagt er. „Das hat mir sehr geholfen.“

Hakizimana hat diese große Ader auf der Stirn. Sie verläuft an seiner linken Schläfe entlang und beginnt nervös zu zucken, wenn er sich in Rage redet. „Es sind unsere Eltern, die den Genozid geplant haben. Unsere Eltern, die ihn durchgeführt haben. Nicht wir“, sagt er.

Gegenwärtig sucht er nach Arbeit. Er will im Tourismus Fuß fassen, mehr tun, als nur die Koffer zu tragen. „Mein Traum ist es, mit Touristen aus den fernsten Ländern zusammenzuarbeiten“, sagt er. Dann leuchten seine Augen. Touristen durch die Straßen von Kigali führen. Nicht durch das schöngeschminkte Kigali aus den bunten Reiseführern. Durch sein Kigali. So wie er es erlebt.

„Überall im Land werden Stätten zum Gedenken der Opfer errichtet. Doch was ist mit den Überlebenden? Sie bekommen schlicht zu wenig“, sagt Honorine Uwababyeyi – so könne es keinen Neuanfang geben.

Uwababyeyi will die Wahrheit ins richtige Licht rücken. „Ruanda hat zu lange geschwiegen“, sagt sie. Was war die Rolle meines Vaters im Genozid? Wo steckte mein Onkel? Wahrheit sei für sie das Wühlen in der eigenen Erinnerung. Dazu gehöre immer auch der offene Austausch mit anderen. „Wir müssen uns unsere Wahrheit eingestehen, aber auch die unserer Eltern“, sagt Uwababyeyi und bestellt die Rechnung.

Fotos: Leon Willner

Die Recherche zu diesem Artikel war nur dank der großartigen Unterstützung meines Kollegen Richard Irakoze möglich. Am 13.04.2019 erschien die Geschichte in nd. Die Woche

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