Marianne Gareis ist seit 2001 die Übersetzerin des Literaturnobelpreisträgers José Saramago. Im Interview spricht sie über Begegnungen mit dem Autor und den rätselhaften Umgang Portugals mit Saramagos Erbe.
Das Gespräch führte Leon Willner
Frau Gareis, vor 20 Jahren bekam José Saramago in Stockholm den Literaturnobelpreis verliehen. Schlagartig explodierten die Verkaufszahlen seiner Bücher, auch in Deutschland. Als Nachfolgerin von Ray-Güde Mertin wurden Sie 2001 die Übersetzerin Saramagos, die selbst auch Saramagos Agentin war. Große Fußstapfen.
Marianne Gareis: Als ich damit begann, Saramago zu übersetzen, fühlte ich mich eigentlich noch gar nicht bereit dafür. Sollte ich mich wirklich an so einen großen Autor wagen? Das war eine ganz große Herausforderung. Ich hatte zwar ein paar Sachen übersetzt, aber nach ein paar Jahren Festanstellung war ausgerechnet Saramago mein Wiedereinstieg als freie Übersetzerin.
Sarmagos Stil ist sehr prägnant, in seinen Texten vermengen sich Poesie mit Alltagssprech in einem eigenwilligen Sprachduktus. Wie geht man an einen Saramago ran?
Ich war vorher nicht mal ein großer Saramago-Fan, fand seine Literatur eher anstrengend zu lesen. Die Idiomatik, die Saramago verwendet, hat mich manchmal wahnsinnig gemacht. Diese Ausdrücke sind teilweise frei erfunden. Da ist es schwierig, eine Entsprechung im Deutschen zu finden. Manchmal habe ich selbst auch idiomatische Ausdrücke erfunden. Ich habe für die ersten Romane wahnsinnig lange gebraucht. Es war sehr gut, dass ich keine engen Abgabetermine gesetzt bekam. Mit der Zeit wurde Saramago neben der Herausforderung immer mehr zur Freude. So habe ich beispielsweise nie wieder so viel Anerkennung bekommen wie für die Übersetzungen von Saramago. Die Leser zeigten sich begeistert davon, dass ich ihnen Saramago in deutscher Sprache zugänglich gemacht habe.
Was war ihr erste Übersetzung von Saramago?
A Caverna, auf Deutsch „Das Zentrum“, 2002 erschienen. Ich würde heute anders an diesen Text herangehen, soviel ist sicher. Ich weiß jedoch nicht, ob das Resultat besser wäre. Damals habe ich mir alles erfühlt. Ich habe erspürt, was er sagen will. Er ist als Mensch sehr in seinen Büchern präsent. Ich konnte damals nicht sagen, warum ich bestimmte Dinge so übersetzt habe und nicht anders. Vieles entsprang einfach meinem Gefühl.
Seine starken Frauenfiguren waren für mich faszinierend.
Was kann man aus dem Werk von José Saramago für die Zeit von heute mitnehmen?
Für mich war das immer die Menschlichkeit. Man hat das gespürt, vor alle in seinen Dialogen. Auch seine starken Frauenfiguren waren für mich faszinierend. Er mutet dem Leser einiges zu, doch man wird für das Lesen belohnt. Es gibt dann mittendrin Momente, die sind einfach wunderschön, von der Art, wie sie erzählt sind und der Sensibilität, die zwischen den Zeilen mitschwingt. Man spürt, wie wichtig ihm die Menschlichkeit ist. Das Menschsein und die Solidarität. Etwas, das in unserer heutigen Gesellschaft oft fehlt.
Haben Sie einen Favoriten?
Mein Favorit ist „Eine Zeit ohne Tod“. A Morte, „der Tod“, ist im Portugiesischen, anders als im Deutschen, weiblich. Das Buch ist eine Liebesgeschichte zwischen dem Tod, sprich einer „Frau Tod“ und einem Cellisten. Hier musste ich einen Kniff finden, um die Weiblichkeit des Todes auszudrücken. Man musste die ganze Bilderwelt ändern und den Leser in Richtung weiblicher Tod führen. Das war für mich die schönste Übersetzung, die ich je in meinem Leben gemacht habe.
Wie haben Sie diesen Clou hingekriegt?
Eigentlich hat es der Text selbst vorgegeben! Es gibt einen Brief, den der Tod geschrieben hat. Darin sagt sie „Ich bin nicht der universelle, groß geschriebene Tod, ich bin nur der Menschentod, der kleine Tod.“ Sprich, sie sei nicht der Tod A Morte, sie sei schlicht morte, und so unterschreibt sie dann auch: „morte“. Damit kam ich darauf, dieses „morte“ zum Eigennamen zu machen, also sie auf Deutsch einfach „tod“ zu nennen. Und auf einmal konnte ich mit weiblichen Pronomen arbeiten. Das war so ein einfacher Trick, und das Geniale war, dass es im Text schon vorgegeben war. Ich habe Saramago das Problem geschildert und er zeigte sich von meiner Lösung vollkommen begeistert. Von da an hat er die Übersetzer aus anderen Sprachen mit demselben Problem an mich überwiesen.
Die Kraft, die dieser Mann ausgestrahlt hat!
Sie haben José Saramago auch persönlich getroffen. Wie blieb Ihnen der Literaturnobelpreisträger in Erinnerung?
Ich finde, der Film José e Pilar zeigt sehr gut, wie eingespannt er in den letzten Jahren seines Lebens war. Es war immer sehr schwierig, einen Termin mit ihm zu kriegen. Ohne seine Frau Pilar del Río hätte das nie funktioniert. Doch wenn man ihn dann traf, hatte er auch Zeit. Er wirkte offen und präsent. Ich erinnere mich, wie er in Lissabon die Avenida de Liberdade hochging: schnell und energischen Schrittes. Die Kraft, die dieser Mann ausgestrahlt hat! Selbst mit 80 Jahren ist er allen vorausgelaufen. Kraft und Präsenz, das war das Wesentliche an Saramago. Er hatte Charisma. Er hat es geschafft, Menschen nur über seine Sprache total für ich einzunehmen. Dabei hat er eine Menschlichkeit ausgestrahlt, die einen sehr beeindruckte.
Doch es gibt auch andere Aussagen über Saramago. Manch ein Landsmann empfand sein Auftreten als reserviert oder gar arrogant. Wie haben Sie das empfunden?
Das habe ich auch erlebt, ja. Es gab ja diesen alten Streit, nach dem er dann nach Spanien ausgewandert ist. Der Groll, den er gegen sein eigenes Land, gegen die Regierung gehegt hat, schwang immer mit. Da war er zum Teil sehr verhärtet und hat sich zum Teil sehr verbittert geäußert. Vor allem aus einer Enttäuschung heraus. Er hatte eine sehr harte Haltung, die er sonst nicht hatte, war manchmal auch überempfindlich. Ich weiß, dass es diplomatisch immer wieder komplizierte Situationen gab, und manchmal war er seinen eigenen Landsleuten gegenüber reserviert.
Nach dem Nobelpreis war Portugal urplötzlich wieder ganz scharf darauf, Saramago für sich zu gewinnen. Die ersten Glückwünsche zum Nobelpreis kamen aber aus seiner Wahlheimat Spanien.
Immer diese Eifersüchteleien und Konkurrenz. Ich war vor kurzem auf einer Hommage in Wien. Auch da hat man es wieder gespürt! Wem gehört er? Uns oder euch? Als harscher Kritiker der Regierung war er vielen Portugiesen ein Dorn im Auge, aber er war eben auch der einzige Nobelpreisträger portugiesischer Sprache. Sie brauchten ihn, als Aushängeschild.
Immer diese Eifersüchteleien und Konkurrenz.
Übersetzer*innen schaffen ein eigenes Werk. Trotzdem findet sich ihr Name oftmals nur versteckt auf einer der hinteren Seiten wieder. Wie kann man für mehr Aufmerksamkeit für die Zunft des Übersetzens kämpfen?
Der Verband fordert seit über 20 Jahren mehr Aufmerksamkeit. Vor 20 Jahren stand unser Name manchmal noch nicht einmal auf der dritten Seite vom Buch, sondern irgendwo im Impressum, und so wurden wir auch behandelt: Die Übersetzerkosten liefen unter den Kosten der Herstellung. Völlig absurd. Geändert hat sich das vor allem durch das neue Urhebergesetz. Es wurde darin nochmals eindeutig klargestellt: Übersetzer sind Urheber. Das ist unser Werk. Dadurch ist ein anderes Bewusstsein entstanden. Wir haben viel bewegt: Es gibt zum Beispiel den Verein Weltlesebühne, bei dem ich Mitglied bin. Dabei gehen wir mit unserem Werk auf die Bühne und freuen uns, mehr Aufmerksamkeit für das Thema Übersetzung generieren zu können. Ich gehe inzwischen mit meinen Büchern auch in Schulen und leite kleine Workshops. Es ist ein großer Erfolg des Verbandes, dass die Übersetzer inzwischen auch gekannt werden.
Ermuntern Sie die Jüngeren noch Übersetzer*in zu werden, in Zeiten, in denen die Onlineübersetzer immer besser werden?
Ich bin immer wieder beruhigt, denn wenn ich Sachen in die Online-Übersetzer eingebe, merke ich, dass die meisten noch recht dürftig sind. Ich gehe nicht unbedingt in Schulen, um die Schüler zu ermuntern, Übersetzer zu werden, sondern um ihnen zunächst zu zeigen, was es heißt Literaturübersetzerin zu sein. Ich gebe meine Begeisterung weiter und stoße auf reges Interesse. Hinterher kamen die Kinder zum Teil zu mir hergelaufen und haben mir gesagt „ich möchte auch Literaturübersetzer werden“.
Der Verband fordert seit 20 Jahren mehr Aufmerksamkeit.
Wie ist die Bezahlung in dem Beruf?
Man wird nach Normseite bezahlt, das kann recht unterschiedlich sein. Es gibt keinen Tarif, sondern nur Richtwerte, und die variieren nach Sprachen und Schwierigkeitsgrad. Daneben geht es um Beteiligung und Nebenrechte. Eigentlich gibt es auch ein BGH-Urteil, Vorgaben, nach denen uns die Verlage bezahlen müssten, aber die halten sich oft nicht daran. Wir kämpfen sehr von Verbandseite aus (Anm.: Der „VdÜ“ ist der Verband deutschsprachiger Übersetzer literarischer und wissenschaftlicher Werke).
Interview: Leon Willner
Foto: Flickr